
Madame Frigo: Kühlschrank statt Kübel

Madame Frigo: Kühlschrank statt Kübel
Die guten Seelen des Sentitreffs
"Mein Name ist persisch", sagt Minu. "In meiner Religion gibt es zwei Engel, die so heissen." Und wenn nicht grad ein Engel, so ist die Frau mit den zurückgekämmten braunen Haaren und der eleganten Brille zumindest eine gute Seele – eine von vielen im Sentitreff. 13'000 Leute gehen hier pro Jahr ein und aus, 8'000 Stunden ehrenamtliche Arbeit werden geleistet, so viel wie vier Vollzeitstellen. Das Quartierzentrum liegt zwischen den Bahngleisen und der viel befahrenen Baselstrasse. Diese Ecke Luzerns gilt – je nach Perspektive – als laut und problembehaftet oder als bunt und lebendig.


Helfende Hände für den Mittagstisch
Jetzt gerade muss es schnell gehen: Der Transporter der Stiftung "Schweizer Tafel" ist angekommen und steht auf dem Trottoir vor dem weissen Altbau. Camilia übernimmt das Zepter – sie ist für die Annahme der Lieferungen zuständig. Unterstützt von Minu und weiteren helfenden Händen trägt sie kistenweise Lebensmittel aus dem Van. Vieles davon wird in der Küche des Sentitreffs verarbeitet, wo zweimal pro Woche für einen Mittagstisch gekocht wird. Wenn etwas übrig bleibt, kommt es in ein auffälliges gelbes Holzhäuschen im Garten des Quartierzentrums.


Wer etwas braucht, bedient sich.
Dieses Häuschen im Sentigarten hat es in sich. "Madame Frigo" steht in grossen Buchstaben drauf, drin ist ein Kühlschrank. Die Idee: eine Food-Tauschbörse. Wer einwandfreie, überschüssige Lebensmittel hat, bringt sie zum Frigo; wer etwas braucht, nimmt es sich. Der Kühlschrank wird von Privatpersonen aus dem Quartier bestückt, aber auch gemeinnützige Organisationen wie die Tafel, kirchliche Gruppierungen oder lokale Läden und Bäckereien beteiligen sich. Bezogen werden die Lebensmittel vor allem von Menschen, die aus finanziellen Gründen auf kostenlose Nahrungsmittel angewiesen sind.
Den Frigo nutzen sehr verschiedene Leute – den Grossteil machen armutsbetroffene oder abhängige Menschen aus.
Armutsbetroffene und Abhängige
Camilia, die sich zusammen mit Minu und anderen Helferinnen und Helfern um die Pflege des Madame-Frigo-Kühlschanks kümmert, wohnt gleich gegenüber vom Sentitreff. Sitzt sie auf ihrem Balkon, hat sie einen guten Blick auf das Kommen und Gehen im Garten. Sie sagt: "Den Frigo nutzen sehr verschiedene Leute – den Grossteil machen aber schon armutsbetroffene oder abhängige Menschen aus." Und Minu ergänzt: "Viele haben auch kein Obdach oder keinen Zugang zu einer Küche. Sie freuen sich besonders, wenn Dinge im Kühlschrank liegen, die man gleich vor Ort essen kann, zum Beispiel Sandwiches."


Im Sommer ist "Hochsaison"
Besonders oft landen Früchte und Gemüse im Frigo. Darum ist im Sommer "Hochsaison". Dank der Kühlung können aber auch Milchprodukte wie Butter, Käse oder Rahm vorbeigebracht werden. Nicht erlaubt sind Fleisch, Fisch, Alkohol sowie bereits geöffnete Produkte oder selbst gekochtes Essen. Für Brot und andere Backwaren, Pasta oder Reis gibt es ein separates, ungekühltes Fach. "Manchmal finden wir auch Non-Food im Frigo", berichtet Minu. "Masken während der Corona-Zeit, Hautpflegeprodukte oder im Frühling hübsche Blumen." Dass sie bei ihrer Kontroll- und Reinigungstätigkeit Abfall oder ungeniessbare Lebensmittel entsorgen müssen – das kommt hingegen eher selten vor.


Catering-Abfall als Auslöser
Lanciert wurde Madame Frigo vor rund zehn Jahren. Bei einem Kaffee erzählt die Geschäftsstellenleiterin Melanie Marti: "Unsere Gründerin arbeitete während des Studiums in einem Cateringunternehmen und war schockiert, wie viele Lebensmittel im Abfall landen – obwohl sie immer noch geniessbar sind." Daraufhin startete sie in Bern mit einem öffentlichen Kühlschrank einen ersten Versuch. Das Projekt fand Anklang und wuchs stetig: Heute ist Madame Frigo ein Verein, der mittels Kooperationen und Spenden finanziert wird. Über 170 Kühlschränke stehen mittlerweile in der ganzen Schweiz – in Adelboden und Epalinges, in Winterthur und Romont, in Locarno und eben auch in Luzern.
Über Madame Frigo
Madame Frigo ist ein gemeinnütziger Verein. Er kümmert sich um Administration und Koordination rund um gut 170 öffentliche Kühlschränke in der Schweiz. Die einzelnen Kühlschrankstandorte werden von etwa 700 Helferinnen und Helfern betreut, die sich auf freiwilliger Basis für die Reduktion von Food Waste engagieren. Laut eigenen Angaben rettet Madame Frigo zusammen mit den Kühlschrankbetreiberinnen und -betreibern pro Jahr 300 Tonnen Lebensmittel vor der voreiligen Entsorgung.
Madame Frigo stellt die "Hardware".
Alle Frigos funktionieren nach dem gleichen Prinzip: Der Verein Madame Frigo stellt gegen eine Aktivierungsgebühr die "Hardware" zur Verfügung, also den Kühlschrank und das grellgelbe Häuschen drumherum, und kümmert sich um allfällige Reparaturen. Für alles andere sind die Betreiber:innen zuständig. Das können Quartiertreffs sein, Gemeinschaftszentren, Gemeinden, Pfarreien, Vereine, Unternehmen oder auch Private. Sie zahlen den Strom und sind dafür verantwortlich, dass der Frigo sauber und in einwandfreiem Zustand ist.
Der Frigo bringt die Leute zusammen.


Initiative der Betreiber:innen
"In der Regel kommen potenzielle Betreiber auf uns zu – nicht umgekehrt", sagt Melanie. "Unsere Erfahrung zeigt: Alles läuft ein bisschen reibungsloser, wenn die Initiative von ihnen ausgeht." So war es auch beim Sentitreff, wie Koordinator Raphael Meyer erzählt: "Unsere Mittagstischköchin interessiert sich sehr für den Kampf gegen Food Waste. Sie hat von Madame Frigo gehört und den Stein ins Rollen gebracht." Denn etwas Ähnliches gab es im Quartier an der Baselstrasse zuvor nicht. "Dass das Angebot so niederschwellig ist, macht es besonders wertvoll", sagt Raphael.
Inspirationsquelle in Grellgelb
Heute ist Madame Frigo aus dem Sentigarten nicht mehr wegzudenken, denn der Kühlschrank hat eine grosse soziale Bedeutung – über die Unterstützung Bedürftiger hinaus. "Der Frigo bringt die Leute zusammen", sagt Raphael. Diejenigen, die etwas bringen, diejenigen, die etwas holen, und diejenigen, die im Sentitreff arbeiten. Und auch eher zufällige Gäste, wie Minu erzählt: "Kürzlich war ein deutsches Ehepaar im Garten und fotografierte den Kühlschrank. Sie möchten so ein Projekt auch in ihrer Stadt auf die Beine stellen." Vielleicht wird aus Madame Frigo also bald eine Dame von Welt.

Team Frigo: Raphael, Minu, Melanie und Camilia (vlnr)
Food Waste Facts
In der Schweiz landen jährlich rund 2,7 Millionen Tonnen Lebensmittel im Abfall. Rund ein Drittel aller essbaren Anteile von Lebensmitteln geht zwischen Acker und Teller verloren oder wird verschwendet. Das sind rund 330 Kilogramm pro Person!
Der Anteil des Ernährungssystems am ökologischen Fussabdruck der Schweiz beträgt rund 28 Prozent. Ein Viertel davon ist auf vermeidbare Lebensmittelverluste zurückzuführen.
Werden Fleisch oder verarbeitete Milchprodukte wie Käse und Butter nicht konsumiert, ist das besonders umweltschädlich, weil für ihre Produktion bereits viel Energie aufgewendet wurde.
Berücksichtigt man nicht die reine Menge, sondern die Umweltwirkung von Food Waste, dann tragen Privathaushalte mit 38 Prozent am stärksten zum Problem bei.
Die Schweiz will Food Waste bis ins Jahr 2030 halbieren (im Vergleich zu 2017).










































