Lebensqualität in der Landwirtschaft

back to top
Gschicht vo hie

Lebensqualität in der Landwirtschaft

Das Leben auf dem Bauernhof ist nicht nur ländliche Idylle. Agrarsoziologin Sandra Contzen erforscht, was die Lebensqualität von Landwirtinnen und Landwirten beeinträchtigt. Aber auch, wie sie gefördert werden kann.

Wie steht es um die Lebensqualität von Bauernfamilien in der Schweiz?

Grundsätzlich gut und gemäss den letzten Erhebungen des Bundesamts für Landwirtschaft in einigen Bereichen sogar etwas besser als bei der restlichen Bevölkerung. Die Bauernbetriebe stehen aber vor ganz spezifischen Herausforderungen, die sich negativ auf die Lebensqualität auswirken können.

Zur Person

Sandra Contzen ist Dozentin für Agrarsoziologie an der Hochschule für Agrar-, Forst- und Lebensmittelwissenschaften HAFL in Zollikofen bei Bern. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören die Lebensqualität und die Lebensbedingungen von Bauernfamilien, Geschlechterbeziehungen in der Landwirtschaft sowie Betriebsübergabe und Generationenfragen.

Welche Herausforderungen sind das?

Erstens die ökonomische Lage der Betriebe: Vor allem in der Bergzone ist das Einkommen sehr tief. Und zweitens der politische Druck: Die teils sehr hart geführten Diskussionen rund um Agrarinitiativen bedrücken die Bauernfamilien. Sie haben den Eindruck, dass sie und ihre Arbeit nicht wertgeschätzt werden.

Die Lebensqualität muss bei allen betrieblichen Entscheiden mitgedacht werden.

Sandra Contzen, Dozentin für Agrarsoziologie

Was bedeutet Lebensqualität für Landwirtinnen und Landwirte?

In unseren Untersuchungen betonen Landwirtinnen und Landwirte immer, dass sie für eine hohe Lebensqualität keinen Reichtum brauchen. Aber sie möchten finanziell so abgesichert sein, dass sie sich keine Sorgen machen müssen. Daneben ist Zeit ein entscheidendes Kriterium – Zeit zu haben für sich, für die Familie, aber auch um angestammte Arbeitsmuster und Betriebsformen zu hinterfragen. Und schliesslich spielt auch die Zufriedenheit eine grosse Rolle.

Schweizer Milchproduzenten

Selbstcheck Lebensqualität

Welche Faktoren tragen zur Zufriedenheit bei?

Landwirtinnen und Landwirte schätzen ihre Selbstständigkeit, dass sie ihre eigenen Chefs sind. Die Arbeit mit den Händen, in der Natur und in der Milchwirtschaft, insbesondere mit den Tieren, gibt ihnen ein Gefühl von Sinnhaftigkeit. Zur Zufriedenheit trägt aber auch eine privilegierte Wohnlage bei – also, dass Bauernfamilien oft in einem grossen Haus mit viel Umschwung leben.

Alles, was Freiräume vergrössert, kann die Lebensqualität verbessern.

Sandra Contzen, Dozentin für Agrarsoziologie

Dann gibt es ja auch Dinge, die diese Idylle trüben.

Ja. Das Bild von der selbstständigen Landwirtin, vom selbstständigen Landwirt steht im Widerspruch zu den zahllosen regulatorischen Vorgaben in der Landwirtschaft. Viele fühlen sich extrem fremdgesteuert. Hinzu kommt: Das naturnahe Arbeiten wird mehr und mehr durch automatisierte Prozesse abgelöst – was zwar Zeit spart, aber sich oft eben auch weniger sinnhaft anfühlt. Und schliesslich sind da noch Paar- und Generationenkonflikte.

Wie zeigen sich diese Konflikte?

Entscheidend ist bei Paaren oft, ob jemand auf dem Bauernhof aufgewachsen ist oder eingeheiratet hat. Eingeheiratete haben tendenziell andere Ansprüche punkto Ferien, Freizeit oder Abgrenzung. Das kann natürlich zu Paar-, aber eben auch zu Generationenkonflikten führen – dann, wenn die ältere Generation noch auf dem Hof lebt, allenfalls mitarbeitet und mit den Vorstellungen der eingeheirateten Person nicht einverstanden ist.

Bauernfamilien haben den Eindruck, dass sie und ihre Arbeit nicht wertgeschätzt werden.

Sandra Contzen, Dozentin für Agrarsoziologie

Sie haben einen ganzen Strauss an Problemen erwähnt: familiäre Herausforderungen, technologischer Wandel, finanzieller und politischer Druck ...  Welche Folgen haben diese vielfältigen Belastungen für Landwirtinnen und Landwirte?

Es sind tatsächlich viele Faktoren, die auf die Lebensqualität einwirken. Und sie beeinflussen sich gegenseitig: Wer zum Beispiel finanzielle Schwierigkeiten hat, leidet auch psychisch darunter. Die Sorgen wiederum können Beziehungen oder das ganze Familiensystem belasten und bestehende Konflikte verschärfen. Das kann auch zu Depressionen oder Burnout führen.

 

Welche Hilfsangebote stehen Bauernfamilien in solchen Situationen zur Verfügung?

Davon gibt es viele, zum Beispiel Sorgentelefone, Mediationsstellen oder Beratungsdienste, die sich mit den Herausforderungen in der Landwirtschaft auskennen. Wichtig wäre aber, dass man nicht zuwartet, bis eine Feuerwehrübung nötig ist. Man muss früher ansetzen.

Unterstützungsangebote

Der Schweizerische Bauernverband hat eine Liste mit nationalen und kantonalen Angeboten zusammengestellt, die Landwirtinnen und Landwirte in schwierigen Situationen unterstützen können.

Mehr Informationen

 

Wie genau?

Die Lebensqualität muss bei allen betrieblichen Entscheiden mitgedacht werden. Egal, ob es um den Bau eines grösseren Stalls geht, um Investitionen in die Automatisierung oder Personalentscheide: Landwirtinnen und Landwirte sollten sich nicht nur fragen, welche wirtschaftlichen Folgen ein bestimmter Schritt hat, sondern immer auch, was dieser für das Gesamtsystem bedeutet: für Arbeitsbelastung, Zeitmanagement, Familie, Paarbeziehung etc.

Gibt es weitere Strategien, mit denen Landwirtinnen und Landwirte aktiv in ihre Lebensqualität "investieren" können?

Ja. Alles, was Freiräume vergrössert, hilft. Zum Beispiel eine stärkere Abgrenzung gegenüber Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, indem man nicht jeden Tag jede Mahlzeit zusammen einnimmt; oder dass man Kooperationen eingeht und sich punktuell unterstützt; oder sich in Betriebsgemeinschaften zusammenschliesst und die Verantwortung auf mehrere Schultern verteilt. So wird auch Zeit freigeschaufelt – und die braucht man, um seinen Betrieb so auszurichten, dass er einem auch wirklich Freude macht.